Gelüste

Ich bin gerade auf dem Weg zur Post, um eine Geburtstagskarte an meine Oma aufzugeben, da höre ich schon von Weitem eine knarzende Stimme: „Mandarinen – 50 Cent das Kilo, Orangen, Zitronen…“. Kurz darauf biegt ein kleiner Transporter mit halboffenem Verdeck um die Ecke und das Anpreisen des durch Triggiano geschaukelten Obstes und Gemüses fängt von vorn an, bis der Fahrer an einer Ecke anhält. Wie aus dem Nichts tauchen einige Omchen auf und beginnen das Auto zu umlagern, so dass der Fahrer herausspringt und zu verkaufen anfängt. „Gut,“ denke ich, „hier kannst du dir nachher noch eine Zwiebel besorgen.“ Seit Tagen habe ich nämlich schon Hunger auf Rührei.

Rührei zählt in Italien nicht gerade zu den bekanntesten Gerichten, was mich zunächst sehr verwunderte, denn in meinem Sprachkurs stand „uovo strapazzato“ schon in einer der ersten Lektionen auf der Tagesordnung. Aber außer Luigi, der es gelegentlich isst, wenn ich die Zwiebeln, die er nicht ausstehen kann, mikroskopisch klein hacke, konnte sich noch niemand dafür begeistern. Hinzu kommt, dass mich Maria nur zum gelegentlichen Backen widerstandslos in die Küche lässt, und eine kurze prägnante Erklärung, warum ich nicht das hervorragende Hähnchenkotelette, liebevoll gefüllte Paprikaschoten oder ein Viertel einer Fleischpastete, sondern schnöde verrührte Hühnereier essen möchte, ist mir bisher noch nicht eingefallen. Ich kann’s nicht erklären, ohne wissenschaftlich zu werden. Aber Philosophie oder Biologie übersteigen im Moment noch mein spontanes Interaktionsermögen. Es könnte Prägung sein oder unbewusstes Heimweh: Hin und wieder überkommen mich Gelüste nach Speisen wie Kartoffelbrei, Bratkartoffeln oder eben Rührei. Ich sehe das pragmatisch: Es ist wesentlich einfacher, sich in Italien ein vernünftiges Rührei zu braten oder Kartoffeln zu stampfen, als z.B. in Deutschland eine gute Mozzarella zu bekommen. Jedenfalls wäre es theoretisch wesentlich einfacher, wenn Mamma Maria nicht die unbedingte Alleinherrschaft über ihre Küche beanspruchen würde.

IMG_4240Während ich die Sicherheitstüren passiere, um anschließend in der gerammelt vollen Post vorschriftsmäßig eine Nummer beim Buchstaben „P“ für „Korrespondenzen und Päckchen“ zu ziehen, überlege ich bereits, wann eine strategisch günstige Uhrzeit für das Erstürmen der Küche sein könnte. Bis zum Herbst sind Luigis Eltern regelmäßig in ihr Sommerhäuschen gefahren und wir waren bei der Essenszubereitung für einige Tage unabhängig. Aber jetzt im Winter muss ich den Moment abpassen, in dem Maria das Studium der Tageszeitung beendet hat und ins Bad geht, bevor sie sich vor den Herd stellt, um irgendetwas zu frittieren oder zu backen.

Eine lautstarke Diskussion reißt mich aus meinen Rühreigedanken. Offensichtlich hat Nummer „E 392“ das Aufrufen seiner Nummer verpasst und „E 393“ konnte sich, dadurch das seine Nummer nur wenig später aufgerufen wurde, vordrängeln. Möglicherweise hatte „E 392“ einen der 10 Stühle ergattert und war beim Warten eingeschlafen. Vielleicht wurde er auch tatsächlich von der Menschentraube vor den Stühlen am Aufstehen gehindert. Jedenfalls empört er sich nun darüber, dass man mit dem Aufrufen der nächsten Nummer länger warten müsse, damit sich die entsprechende Person auch bis zum Schalter vorkämpfen könne. Der Mann hinter dem Schalter macht komischer Weise gar keinen genervten Eindruck sondern meint nur, er habe jetzt schon begonnen, den anderen Kunden zu bedienen, würde ihn jedoch sofort danach drannehmen. Nummer „E 392“ vergewissert sich bei einigen nickenden Umstehenden, dass sie es genauso sähen wie er und man mit dem Aufrufen der nächsten Nummer länger warten müsse. Als eine ältere Dame schließlich meint, er solle froh sein, dass er gleich rankäme, denn sie habe Nummer 416 und müsse noch Stunden hier stehen, gibt er Ruhe.

Ich habe Glück, dass die meisten Italiener die Post eher als Bank benutzen. Während ich „P 64“ bin und der im Moment zu bedienende Kunde mit dem Buchstaben „P“ die Nummer 60 hat, sind sie Vormittags um halb elf bei den Bankschaltern offensichtlich bereits bei 393. Gemessen an den vielen Wartenden dürften die ausgegeben Nummernzettelchen inzwischen bei 420 oder höher angekommen sein. Ich fühle mich ein bisschen klaustrophobisch, muss aber im Ganzen nur zehn Minuten warten, bis ich Omas Geburtstagskarte über den Thresen schieben kann. Als ich wieder an der frischen Luft stehe, atme ich erstmal erleichtert durch, bis mein Blick auf die Ecke mit dem Obst- und Gemüseauto fällt und ich sehe, dass ich nichts sehe. Der Verkäufer ist inzwischen weitergefahren.

IMG_20130109_141303Doch alles kein Problem. Auf dem Weg nach Hause habe ich mindestens drei Gelegenheiten, mir in einem Supermarkt oder einem Gemüseladen eine Zwiebel zu kaufen. Manchmal stehen auch Stühle mit Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten vor den Haustüren herum oder Männer verkaufen aus dem Kofferaum ihres Autos heraus. Es ist erst drei Wochen her, dass mir beim Anblick eines mit Weintrauben beladenen Kofferraumes das Wasser im Mund zusammenlief und ich zu einem hageren Opa sagte: „Ich hätte gern ein paar Weintrauben.“ „Wie viele?“, antwortete der und, da ich den obligatorischen Einkaufskorb-Euro in meiner Jackentasche fühlte, sagte ich ohne große Überlegung: „Für einen Euro.“ – Ich bekam anderthalb Kilo in zwei Plastebeuteln und musste drei Tage lang Weintrauben essen, damit die letzen nicht vor dem Verzehr verderben konnten. Deswegen werde ich heute tatsächlich auf Nummer sicher gehen und nur „eine Zwiebel“ kaufen.

IMG_20130109_140833Ein paar Schritte den Corso hinunter steht wie an jedem Tag ein kleiner roter LKW an einer Kreuzungsecke. Schon aus einiger Entfernung sehe ich, wie ein junger Mann der Stadtreinigung mit seinem Moped neben dem LKW zum Stehen kommt, sich eine Mandarine schnappt und, während er diese abpellt mit dem Verkäufer zu schwatzen beginnt. Als ich kurz darauf neugierig die Kisten auf dem Verdeck mustere, greift sich der Verkäufer eine Plastiktüte und wendet sich mir zu: „Mandarinen, Orangen, Rape? Alles gute Ware. Wie viel darf ich einpacken?“ „Eine Zwiebel bitte.“ antworte ich. Er lacht. „Ein Kilo?“, fragt er dann, um sich zu vergewissern. „Nein, nur eine Zwiebel und nicht zu groß bitte.“, lächle ich leicht verlegen zurück und suche in meiner Tasche nach dem Portemonnaie. Der Verkäufer kratzt sich am Kopf, wühlt anschließend in seiner Zwiebelkiste, sucht eine aus und gibt sie in die Waagschale. Dann drückt er ein bisschen mit der Hand auf der Schale herum, nimmt die Zwiebel von der Waage und hält sie überlegend in der Hand. Ich sehe ihn abwartend an und beginne zu zweifeln. Was ist denn los? Habe ich etwas falsch gemacht? „Beh,“ macht er plötzlich und drückt mir die Zwiebel in die Hand: „Prenditela è vattene via!“* Mir fällt gerade noch ein, dass ich „Danke“ und „Guten Tag“ sagen sollte. Dann trolle ich mich mit der Zwiebel in der Hand nach Hause.

„Wozu brauchst du die denn?“, fragt mich Maria, als ich angekommen bin und zeigt auf das Geschenk in meiner Hand. „Zuerst möchte ich ein Foto davon machen,“ anworte ich, „und am Abend brauche ich die Zwiebel für das Rührei.“ „Welches Rührei?“, kommt es darauf von Maria zurück. „Zum Abendbrot essen wir heute Spaghettifrittata.“

Irgendwie habe ich geahnt, dass sie so etwas in der Art sagen würde. Aber, gut, Spaghettifrittata ist auch sehr lecker. Dann gibt’s eben morgen Rührei. Oder übermorgen. Oder überübermorgen. Immerhin habe ich schon eine Zwiebel.

* „Nimm‘ sie dir und hau ab!“

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5 Gedanken zu „Gelüste

  1. blitta

    Ok, wunderbar! ich muss also bis nach Puglia, wenn ich ‚mal Päckchen aufgeben will. Hier in Rom sind selbst die „P“-Nummern schon mittags bei 217 und der Typ am Schalter hat meistens gerade erst 73 aufgerufen…

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  2. Corinna

    Ich glaube, das ist ein Vorteil der Vorstadt. Wenn man im Stadtzentrum von Bari zur Post geht, was Luigi aufgrund der Nähe zu seinem Büro häufiger macht, dann wartet man generell eine Stunde, weil der eine Briefe- und Päckchenschalter dort einfach zu wenig ist. Dafür trifft man aber auch Hintz und Kuntz und das ist für die kommunikativen Italiener schon wieder ein Pluspunkt. 😉

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  3. Frau Hilde

    Naive Frage: Gibt es nicht einfach Briefmarken zu kaufen und man wirft die Karte dann irgendwo in einen Briefkasten?

    Oh je; womöglich musst du bis zum Sommer mit dem Rührei warten. Dann allerdings kannst du es abseits der Küche einfach auf den nächsten Kühlergrill legen. 😉

    Die Zwiebel ist übrigens ein besonders hübsches Exemplar ihrer Gattung. Wenn du sie nicht in der Küche bearbeiten kannst, gib ihr einen Namen und pflanz sie ein. Mal schauen, was so draus wächst.

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    1. Corinna

      Die Idee mit der Zwiebel gefällt mir ausgesprochen gut. Das werde ich machen, wenn sich in den nächsten Tagen nichts ergibt, denn ich glaube nicht, dass die sie durchhält, bis wir unsere eigene Küche haben; und bis zum Sommer schon gar nicht. Oh, Mann. . . wenn beide Ereignisse nicht gar zusammenfallen. . . Ich glaube, es ist mal wieder ein neuer „Mission Traumwohnung“-Artikel fällig, der zeigt, dass sich in der Sache nichts bewegt.

      Die Karte war übrigens kein Postkare, sondern eine Umschlagkarte. Da ich auch handschriftlich gern etwas mehr schreibe (meine Oma ist z.B. nicht computertauglich), gehe ich mit Umschlägen lieber zur Post und lasse nachwiegen. Postkartenbriefmarken habe ich noch ein paar hier. Es ist tatsächlich nervenschonender, wenn man etwas nur einzuwerfen braucht. 😉

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  4. Waltraud und Frank

    Es ist schön ein paar Lebenszeichen aus einem anderen Kulturkreis zu lesen.
    Kompromisse fallen nicht allen Menschen leicht,sind aber Bestandteil unseres Lebens.Wir können nachvollziehen,daß auch einmal eine kleine Zwiebel dazu gehören kann.Die Feinheiten des Lebens sind doch sehr interessant.Wir werden deinen Gedanken weiter folgen.

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