Schattenseiten

„Der Freitag“ hat in seiner Ausgabe 35/2017 einen hochinteressanten, beklemmenden Beitrag mit dem Titel „Sie schürfen rotes Gold“ publiziert. Darin wird u.a. die Geschichte des  Immigranten Soleyman aus dem Senegal erzählt, eine Geschichte, die exemplarisch für viele Einwanderer, die sich in Europa mit schlecht bezahlter, harter Arbeit über Wasser halten, steht. Warum ich das hier aufgreife? Soleyman arbeitet im Moment als Tomatenpflücker unter unserer heißen, apulischen Sommersonne für nur 3 bis 4 Euro pro Stunde.

Modernes Sklaventum

Schon das Titelfoto erinnert an die Südstaaten Amerikas vor mehr als 200 Jahren. Man muss im Geiste nur die Tomaten gegen Baumwolle austauschen und sieht, dass sich das moderne Sklaventum gar nicht so sehr vom damaligen unterscheidet. Doch, was der Artikel nicht erzählt, ist, dass es vielen eingeborenen Süditalienern nicht viel besser geht. Die totale Abhängigkeit vom Belieben und den Anforderungen dessen, der dir Arbeit geben kann, lässt zum Beispiel auch Giuseppe unter haarsträubenden Bedingungen sein tägliches Brot mit Saisonarbeit verdienen. Aber Giuseppe ist kein Immigrant. Er ist ein Apulier doc. Ein einfacher Mensch, der den Hauptschulabschluss mit über 30 an der Abendschule nachgeholt hat. Er hat zwei Ehen hinter sich und ein Auswandererabenteuer in Peru. Als ich ihn kennenlerne, wohnt er wieder im Kinderzimmer bei seinen Eltern in der kleinen italienischen Stadt, in der er aufgewachsen ist.

Giuseppe hat sich in den Kopf gesetzt hat, Deutsch zu lernen, weil er Apulien wieder den Rücken kehren will. Dieses Mal endgültig. Sein Traum: in Deutschland leben und arbeiten, unbedingt in München. Warum, weiß er selbst nicht so genau. Es sei eben alles besser in Deutschland. Vor allem gäbe es richtiges Geld für Arbeit. Vielleicht hätte er mal Soleyman fragen sollen, warum dieser dann in Apulien Tomaten pflückt.

Weintrauben putzen

Egal. Wenn Giuseppe abends zu mir in den Deutschkurs kommt, sprechen wir nicht nur über Grammatik und Vokabeln, sondern auch über sein Leben, seine Ehen, die mit daran gescheitert sind, dass er keine Arbeit findet, mit der er seine Familie etwas mehr als nur über Wasser halten kann. Irgendwann erzählt er mir von seinem Sommerjob – Weintrauben putzen. Was muss man sich darunter vorstellen?

Von Juni bis September arbeiten sich Leute sieben Tage die Woche an den Weinreben entlang und pflücken die zu kleinen oder fauligen Weintrauben ab, damit die restlichen größer werden können und dabei nicht faulen. Diese unermüdlichen Weintraubenputzer sorgen dafür, dass die großen, süßen und makellosen Trauben aus Apulien ihren guten Ruf wahren können.

Wie bei den Tomatensklaven klingelt auch bei Giuseppe um 4 der Wecker. Dann holt ihn der Typ ab, der ihm diesen Job vermittelt hat – so eine Art Teamleiter, der sich genau wie bei Soleyman die Chauffeursarbeit zum Feld pro Tag und Person mit 5 Euro bezahlen lässt. Das ist bereits der Lohn für eine ganze Stunde Weintraubenputzen.* Ein Fahrrad würde hier nicht helfen. Die Weinfelder sind gut und gern mal eine Stunde von Giuseppes Heimatort entfernt.

Von 6 bis 13 Uhr pflücken sie die Rebstöcke entlang, immer ein wenig gebückt, das Gesicht nach oben und die Arme die ganze Zeit über den Kopf erhoben. Nach kurzer Zeit schmerzt der Rücken, irgendwann merkt man es nicht mehr. Dann werden die Arme schlapp. Nach ein paar Tagen entwickeln sich die entsprechenden Muskeln. Durchhalten. Außerdem sind die Reben meistens mit Planen überspannt, damit der Regen ihnen nicht schaden kann. Das erhöht die Temperatur der Arbeitsumgebung noch einmal gewaltig. Wer jedoch ständig trinken oder seine Arme ausschütteln muss, kann nicht schnell genug pflücken. Der schafft die ihm zugeteilten Reihen nicht und verliert seinen Job. Weder Giuseppe noch einer seiner Kumpels können sich das leisten. Für die meisten ist diese Sommerarbeit, die einzige im Jahr. Schwarz versteht sich.

Ein „padrone“ als Arbeitgeber

Ob sein Arbeitgeber keine Angst vor Kontrollen habe, fragte ich ihn einmal, weil man gelegentlich hört, dass die Behörden Stichproben machen würden. Ich bekam einen unverständlichen, halb mitleidigen Blick zurück. Dann erklärt er mir, dass die Kontrollen überwiegend dort stattfänden, wo gerade nicht gepflückt wird. Sonst wären sie von ihrem „padrone“ (dt. Herr) angewiesen beim Auftauchen jeglicher Kontrolleure sofort wegzulaufen. Wer einmal gefasst wird, braucht nicht zu hoffen, dass man ihn noch einmal für diesen oder einen ähnlichen Job nimmt. Außerdem würde der „padrone“ ohnehin abstreiten, dass er ihn oder jemand anderen jemals gesehen habe. Wie Giuseppe so selbstverständlich von einem Herrn sprechen kann, versteht vielleicht nur jemand, der in diesem System lebt.

Mittags um eins ist jedenfalls zunächst Schluss mit den Trauben, denn dann wird die Hitze gar zu groß. Doch nachmittags ab 3 machen sie weiter bis abends um sieben.  Da ist Giuseppe in diesem Jahr aber nicht mehr dabei, denn ab 4 büffelt er stattdessen Deutsch. Sein Padrone hat ihm erlaubt, nur vormittags zu arbeiten, weil er genügend Weintraubenputzer hat. Wenn Mitte September die Traubenernte richtig losgeht, wird die Saisonarbeit vorbei sein und Apulien Giuseppe keine Alternative bieten. Dann will er sich mit einem Koffer nach Deutschland aufmachen, denn ein Freund hat versprochen, ihm bei der Jobsuche in München behilflich zu sein, und nur noch nach Apulien zurückkommen, um seine Eltern zu sehen. Die können es kaum erwarten, dass das Kinderzimmer wieder frei wird.

  • Jetzt nur nicht empört auf apulische Landwirte schimpfen, sondern einfach mal „Brandenburg Spargelernte Verdienst“ googeln.

12 Gedanken zu „Schattenseiten

  1. afrikafrau

    Vielen Dank für den aufschlußreichen Bericht Corinna, kann ich einen link auf meinen Blog geben?? möchte etwas dazu schreiben, weil wir daran beteiligt sind, und keinen kümmert es, Hauptsache uns geht es gut usw.!!!!!!!!

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  2. Beatrix Schlinkmann

    Viele Italiener verdienen unter 5 € in den Pizzerien in Deutschland. Deutsche Zimmermädchen unter 3 € in Oberstdorf. Oft durften wir nur den Kaffee der von den Tagungen diverser Firmen überigblieb, lauwarm für 1 € pro Tasse , trinken. Gesetze für Mindestlohn gibt es. Doch genug Wege sie zu umgehen. Schwarzarbeit bei Großbaustellen, sogar beim Zollamt München – sind an der Tagesordnung. Liste endlos lang.
    Natürlich ist Deutschland noch immer das gelobte Land , da die Mehrheit es noch immer gut hat. Wohin das steuert? Ich wünsche Giuseppe alles Gute. Dass er aufrichtige Bekannte finden möge die ihm helfen

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    1. Corinna Autor

      Ja, du hast natürlich recht und ich danke dir für die Beispiele aus deiner Erfahrung. Ich verstehe aber auch, dass G. sein Glück versuchen will und hoffe trotz allem, was dagegen spricht, dass es klappt.

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  3. Pingback: Schattenseiten – Faszination Afrika

  4. Julia

    Eh, leider ist in Deutschland auch nur das Gold, was mit gutem Abschluss und fundierter Ausbildung glänzt. Zumal in München, wo selbst in den Vororten die Mieten kaum noch bezahlbar sind. Ich hoffe für Giuse‘, dass er seinen Traum verwirklichen kann, aber er sollte sich einen Plan B und eine Stadt C im Hinterkopf behalten.

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  5. Arianna D.

    Diesem Herren sollte mal jemand erzählen, wie teuer die Lebenshaltungskosten gerade hier in München sind, angefangen bei Mieten und Heizkosten im Vergleich zu Apulien…
    Aber es träumen leider sehr viele Menschen vom Land, in dem Milch und Honig fließen, das es aber in Wirklichkeit natürlich nirgendwo gibt.

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  6. werner Jording

    Deutschland erwirtschaftet im europäischen Raum (ohne Norwegen und die Schweiz) das höchste pro Kopf Einkommen (BIP) und leistet es sich immer aggressiver, die Löhne auf ein Niveau zu drücken, dass uns im europäischen Vergleich an die 9. Stelle rückt. Deutschland ist Weltmeister bei der Schaffung von Scheinselbständigen und Beschäftigungsmodellen, die den gesetzlichen Mindestlohn massiv umgehen. Guiseppe träumt von einem anderen Leben außerhalb des weltweit grassierenden Raubkapitalismus`. Die Welt, von der Guiseppe träumt, spiegelt den Traum von Milliarden Menschen wider, von denen sich fast 100 Millionen auf der Flucht befinden und 800 Millionen nicht einmal an sauberes Trinkwasser kommen. Guiseppe, ich bin auf deiner Seite, ich wünschte mir für dich, dir etwas Positives sagen zu können, die Welt vom besseren Leben dürfen nur die träumen, die qua Kapitalmacht die Erde eines Tages in Schutt und Asche legen werden, aber auch das ist ihnen egal, wie auch du ihnen völlig egal bist. Sammle die Minuten, in denen du zufrieden bist, hüte sie wie ein Geheimnis, sie sind dein einziges Kapital. Gehe nicht nach Deutschland.

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  7. Corinna Autor

    Andrea hat mich gefragt, ob das Reisen nach Apulien gefährlich sei, weil man immer wieder höre, dass hier Kriminalität und die Mafia regiere. Da sie jedoch ihre E-Mail-Adresse als Benutzernamen angegeben hat, habe ich ihn nicht veröffentlicht. Hier trotzdem meine Antwort für alle, die sich die gleiche Frage stellen:

    Hallo, liebe Andrea,

    Apulien ist für Touristen nicht gefährlicher als jeder andere touristische Ort auf der Welt. Wer sich an ein paar allgemeingültige Regeln hält, kann auch hier unbesorgt Urlaub machen. Im Gegensatz ist meiner Meinung nach das Gefühl für die Wichtigkeit des Tourismus in den letzten 10 Jahren stark gewachsen. Bis 2000 konnte man sich beispielsweise kaum nach Bari Vecchia trauen. Inzwischen haben die dort ansässigen Leute begriffen, dass sie mehr von den durchziehenden Touristenströmen profitieren, wenn sie ihnen das Geld auf legale Weise aus der Tasche ziehen. 😉

    Natürlich sollte man nichts im Auto lassen, das nach einem Wert aussieht. Man sollte auch nicht unbesorgt mit Taschen herumschlenkern oder sich mit Schmuck behängen, der Kleinkriminelle anlocken könnte, aber sonst… ich bin seit 2000 jedes Jahr hier gewesen und nun schon 5 Jahre am Stück hier und bin noch nie beklaut worden.

    Das organisierte Verbrechen ist in Apulien allerdings überall. Da darf man sich nichts vormachen. Aber die verdienen auch an den Touristen oder profitieren anderweitig von ihnen, ohne dass diese es merken. Also sind sie sogar daran interessiert, dass den Touristen nichts passiert.

    Lecce ist ein wunderbarer Ort zum urlauben, der auch von Italiener gern genutzt wird. Ihr solltet euer Vorhaben unbedingt wahr machen.

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