Archiv für den Monat November 2012

In der Liebesfalle

Offensichtlich wiederholt sich alles im Leben. Wie ich gerade jetzt darauf komme, wo ich in einem völlig anderen Land unter einem anderen Menschenschlag lebe? Dazu muss ich etwas weiter ausholen, aber darauf gebracht hat mich ein Schlafanzug, den Luigis Vater mir vor einigen Wochen nach einem Marktbesuch ganz stolz geschenkt hat. Der Schlafanzug ist grau, hat rote Rüschen an den Säumen und ist außerdem mit einer Applikation verziert, die eine süße Comic-Katze zeigt, welche einem niedlichen Comic-Hund einen Kuss aufdrückt; beider Köpfe von Herzchen umflort.

Ich erinnere mich noch deutlich an meine Pubertät – nicht, weil sie so schrecklich gewesen ist, sondern weil sie noch nicht allzulange zurückliegt. Ich trug die Haare raspelkurz und klamottentechnisch brachte ich meine Umgebung mit weitgeschnittenen schwarzen Röcken, Hosen und Pullovern um den Verstand. Heute kann ich das gar nicht mehr nachvollziehen, weil ich der blasse Typ bin und in schwarz eher leichenmäßig rüberkomme. Außerdem entspricht schwarz überhaupt nicht meinem überwiegend fröhlichem Wesen. Aber damals trug es dazu bei, dass meine Mutter nach und nach aufgab, mir Bekleidung zu kaufen. Mit ihren vorsichtigen Versuchen, mehr Farbe in mein Leben zu bringen, traf sie einfach nicht meinen damaligen Geschmack. Die Klamotten landeten irgendwo ganz hinten im tiefen Kleiderschrank und meine einsichtige Mutter erkannte, dass es besser war, wenn ich meine Anziehsachen selbst kaufen würde. Rückblickend war das wohl einer der vielen Schritte auf dem Weg zur Emanzipation von der liebenden Fürsorge der Eltern hin zu einem selbstbestimmten Leben, aber damals verbuchte ich das ungerechter Weise unter „die nervt“ und schlüpfte wieder in einen meiner schwarzen Säcke.

Inzwischen finde ich meine Mama längst nicht mehr nervig und auch mein Verhältnis zu Farben hat sich wieder normalisiert. Ich mag blau, grün und rot; bin bei Mustern aber immer noch zurückhaltend. Nun kam Luigis Vater also mit dem besagten grauen Schlafanzug vom Markt zurück und lächelte mich mit diesem unwiderstehlichen Kleinejungenlächeln an, als hätte er die halbe Welt durchwandert und mindestens zwei Dutzend Drachen erschlagen, um dieses Geschenk für mich zu finden. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass ich mich in grau wie eine Leberwurst fühle, legte ein freudig überraschtes Lächeln auf und versicherte Pasquale, wie sehr ich mich über den niedlichen Schlafanzug freuen würde. Ganz offensichtlich war dieses Geschenk ein deutliches Zeichen des Mangels an einer eigenen Tochter und der Freude über den weiblichen Familienzuwachs. Luigis kleine Großcousine, die Maria jeden Nachmittag hütet, genügte offensichtlich nicht mehr als Mädchenmangelkatalysator. Mir wurde klar, dass wir schleunigst mindestens eine Tochter brauchen, damit Luigis Eltern ihr all die putzigen Kleidungsstücke kaufen können, die sie sonst mir schenken würden.

Während ich die Leberwursthülle wenig später ganz unten in den Kleiderschrank stopfte und dabei einen geblümten Blusenstoff wiederfand, traf mich plötzlich ein ganz anderer Gedankenblitz: Geschah das tatsächlich oder hatte ich ein Dejavù? Nein, es war kein Dejavù. Ich erkannte, dass ich in der Falle saß, denn ganz unten im Kleiderschrank befand sich bereits mein sowohl aus dem Blick als auch aus dem Gedächtnis verbanntes Geburtstagsgeschenk von Mama Maria: eine braun-grün geblümte Bluse mit einem Gummizug am unteren Saum ganz nach der diesjährigen Mode

Ich verstehe nicht, warum die ohnehin einfachst zusammengenähten, rechteckige Oberteile in diesem Sommer auch noch mit einem Gummizug auf der Hüfte – der Stelle, an der bestimmt 80% aller Frauen naturgemäß am breitesten sind – abschließen mussten. Für meinen knappen Geldbeutel ist dieser Modetrend allerdings ein Segen, bewahrt er mich doch einigermaßen sicher vor unnötigen Ausgaben. … trotzdem hat sich dieses unvorteilhafte Teil bei mir eingeschlichen und wartet nun darauf, in einem günstigen Moment an eine Fashionista weiter verschenkt zu werden, denn natürlich konnte ich auch angesichts von Marias freudestrahlendem Geburtstagsüberraschungsgesicht nicht sagen, dass ich eine Bluse mit großformatigen Blumen, die meinen Oberkörper kastenförmig und breit aussehen ließe, unmöglich jemals anziehen konnte

Oh, Gott! Ich sitze ja sowas von in der Falle! Plötzlich zurückkatapultiert in die Pubertät mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal nicht Tochter sondern angehende Schwiegertochter bin. Auf das pubertätsmäßige Recht, die eigenen Eltern anzuzicken, kann ich mich also nicht mehr berufen. Außerdem erkenne ich plötzlich, dass die Falle schon vor Jahren unbemerkt zugeschlagen hat. Schlafanzug und Bluse sind nämlich nicht die ersten Klamottengeschenke, die überhaupt nicht meinem Stil und meinen Maßen entsprechen.

Ganz unten in einer der Schubladen, die Luigi schon vor Jahren für meine Sommersachen frei gemacht hat, liegt ein orangefarbener Bikini, der nur aus Strippen zu bestehen scheint und mit minimalst großen Dreicken meine Brustwarzen und einen winzigen Teil meines recht ausladenden Hinterteils bedeckt. Ganz zu schweigen davon, wie man ihn jedes Mal, wenn man aus dem Wasser kommt, zurecht zupfen muss, damit er notdürftig die Scham bedeckt. Kurz gesagt, wenn man ihn gänzlich wegließe, fiele es gar nicht mehr auf, aber an italienischen Stränden badet man nicht oben ohne oder gar nackt. Man quält sich lieber damit ab, in winzigen Stofffetzchen eine halbwegs gute Figur abzugeben. „Mich kennt ja hier niemand!“ habe ich mir also immer für zwei Urlaubswochen im Sommer eingeredet und in diesem Jahr einen meinem Alter und Körperbau etwas angemesseneren Bikini mitgebracht. Ich war sehr dankbar, dass Maria den „Minikini“ offensichtlich vergessen hatte. Aber jetzt höre ich ihn im Terzett mit dem Schlafanzug und der Bluse gehässig in seiner Schublade vor sich hin kichern.

Ein lilafarbenes Oberteil – ich weiß mich nicht mehr, ob es ein T-Shirt oder ein Pullover war – würde sicherlich glatt mitlachen, hätte ich es nicht vor Jahren schon nach Deutschland mitgenommen, wo es ein Ende fand, an das ich mich nicht mehr erinnere. Dann wäre da noch ein graugrünes T-Shirt, das irgendwo in meinem deutschen Kleiderschrank sein Dasein fristet, weil es in die „vielleicht zieh ich es doch noch einmal an“-Kategorie gefallen ist. Aber natürlich zieht man die Sachen dieser Kategorie niemals an und ich ahne bereits, welches Ende es nehmen wird. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, fällt mir auch noch ein orangfarbenes Maxishirt mit einer Glitterapplikation ein, das ich mal einen Sommer lang in Ostuni trug und das dann auch irgendwie verschwand. Es war mir immer bewusst, dass eine Fernbeziehung von diversen Konfiktvermeidungsmöglichkeiten profitiert, aber das nun ausgerechnet diese Kleiderfrage zu einem der ersten Probleme werden würden, hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Es ist also ganz offensichtlich: Ich sitze in der Falle, denn wie bringt man den liebevollsten und großzügigsten Schwiegereltern der Welt bei, dass sie mit ihrem Geschmack zielsicher daneben liegen? Würde ich damit nicht mindestens ihr Herzen brechen oder undankbar erscheinen.

Vor ein paar Tagen, während ich ahnungslos meiner Deutschschülerin die Uhrzeiten beibrachte, hat Maria heimlich meinen alten, ausgeleierten Wohlfühlschlafanzug in die Wäsche verfrachtet und mich somit gezwungen, entweder im sommerlichen Flatterhemdchen zu schlafen oder zum grauen Geschenkschlafanzug zu greifen. Flatterhemdchen kam beim besten Willen nicht mehr in Frage, denn inzwischen ist es Herbst geworden und somit draußen fast wärmer als drinnen. Als ich also meinen neuen Schlafanzug überstreifte, merkte ich sofort, dass er nicht nur grau und mit Comictieren versehen sondern eigentlich auch zu eng war. Als Pressleberwurst verkleidet versuchte ich daher so unauffällig wie möglich vom Bad ins Bett zu kommen und es glückte mir. Für den Moment war ich sicher unter einer Decke versteckt. Luigi, der mich sowieso mit ganz anderen Augen sieht, fand meine Scham völlig übertrieben und meinte, es sähe „niedlich“ aus. Na, ja. Männer!

Am nächsten Morgen lief ich jedoch Maria auf dem Flur geradewegs in die Arme. Sofort rief sie überglücklich: „Ist das nicht der Schlafanzug, den Pasquale dir gekauft hat? Lass mich mal sehen!“ Schicksalsergeben drehte ich mich einmal nach rechts und dann nach links und war froh, dass der Flur relativ dunkel war, denn in Marias Gesicht sah ich sofort, dass sie meine Einstellung teilte. „Vielleicht ist er ein bisschen eng.“, sagte sie dann vorsichtig.

Hurra! Da war sie.

Endlich!

Die Einsicht.

Und was machte ich? Statt anzumerken, dass es besser wäre, mir keine Klamotten mehr zu kaufen, entgegnete ich: „Ach, Baumwolle weitet sich doch noch…“