Archiv für den Monat Februar 2014

Kinkel, Kastraten und die Altstadt von Bitonto

IMG_7014Etwa 15 Autominuten nordwestlich von Bari entfernt liegt die Stadt Bitonto. Sie ist als “Stadt der Olivenbäume” und wegen der nach ihr benannten Olivenart “Cima di Bitonto” bekannt. Außerdem ist sie berühmt für ihre seit dem achtzehnten Jahrhundert kultivierte Ölherstellung. Die kleine Altstadt, des inzwischen über 50.000 Einwohner fassenden Ortes, lockte am letzen Wochenende mit ihrem typisch süditalienischen Flair aus schmalen, hohen Gassen, imposanten Palazzi, zauberhaften Plätzen, zahlreichen Kirchen und einer beeindruckenden Kathedrale ihre Einwohner hinaus in den frühlingshaften Sonnenschein. Und auch ich hatte angesichts des strahlenden Sonnenscheins Lust auf einen Ausflug.

Kathedrale von Bitonto

IMG_7010“Sag‘ mal,” fragte ich Maria nachdem Luigi sich bereits als unwissend geoutet hatte, “kennst du Caffarelli?” – “Mhmmmm.”, antwortete sie mir zögernd. “Das ist ein Schokoladenproduzent, oder?” – “Na, ja, nicht ganz.”, entgegnete ich ihr.  “Eigentlich handelt es sich um einen Kastratensänger.” – Sie sah mich ein bisschen ungläubig an. Dann erhellten IMG_7008sich ihre Gesichtszüge: “Farinelli, meinst du!” – “Nein, ich meine Caffarelli aus Bitonto.” – Sie kannte ihn nicht. Mir ging es bis vor ein paar Wochen auch so. Deshalb hatte ich mich inzwischen belesen und mir anschließend fest vorgenommen, am erstbesten Sonnenscheinsonntag nach Bitonto zu fahren und mir das Städtchen anzusehen.

KinkelNur durch Zufall und den letzten Roman der deutschen Autorin Tanja Kinkel, “Verführung” (2013), bin ich darauf gestoßen, dass hier im Süden Italiens dereinst Musikgeschichte begann. Kinkels Roman handelt von einem jungen Mädchen, das sich als Kastrat namens Bellino ausgibt, um in den Genuss einer musikalischen Ausbildung zu kommen und den Verkupplungsplänen ihrer Mutter zu entfliehen. Um die Romanhandlung im 18. Jahrhundert zu verorten, werden neben dem Kastraten Caffarelli auch der durch den gleichnamigen Kinofilm aus den 90er Jahren ungleich bekanntere Sänger Farinelli erwähnt. Dieser stammt ebenfalls aus Apulien, genauer aus Andria, wo im letzten September immerhin schon die 4. Ausgabe des “Farinelli Festivals” stattgefunden hat. Auch Scirolino – eine weitere Rokokogröße – kommt aus dem apulischen Martina Franca, wie ein bisschen googeln ans Licht brachte.

Ich war ehrlich beeindruckt, denn die bodenständigen Apulier kamen mir bisher gar nicht so sangesfreudig vor und, obwohl ich über die Erfindung des Britpop froher bin als über alle Jahrhunderte klassischer Musik zusammengenommen, verwundert es mich doch, dass man mit diesemIMG_7015 kulturellen Erbe so wenig anzufangen weiß, denn Bitonto ist unzweifelhaft ein schönes Städchen, aber über seinen berühmten Sohn wusste nicht einmal die junge Frau in der Touristeninfo Bescheid, obwohl sich vor ein paar Jahren ein von der Stadt verliehener Musikpreis mit seinem Namen schmückte. “Sehen Sie sich doch den mittelalterlichen Turm gleich neben dem Stadttor an. Das ist kostenlos.”, sagte sie statt dessen und stattete mich mit einem Stapel Infomaterial und Karten über Apulien aus. Das Erklimmen der steilen Turmtreppen lohnte sich wirklich, denn der Ausblick über die Altstadt war grandios, doch wer war nun Caffarelli?

CaffarelliWikipedia hilft, die Bildungslücke zu schließen: 1710 als Sohn eines armen Bauern geboren, wurde der junge Gaetano Majorano beim Singen in der Kirche von einem Musiker namens “Caffaro” entdeckt, der den Vater davon überzeugte, seinen Sohn der gefährlichen, mit einer hohen Sterblichkeitsquote verbundenen Operation zu unterziehen, um dessen Stimme zu erhalten. Heil davon zurückgekehrt, lernte der Junge bei Caffaro das Lesen, Schreiben und die Grundzüge des professionelle Singens. Dann schickte ihn sein Entdecker zum besten Musiklehrer Italiens. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Gaetano nannte sich seinem ersten Lehrer zu Ehren “Caffarelli” und eroberte als solcher die besten Opernhäuser Europas, wo weltbekannte Komponisten ihm Arien auf den Leib schrieben. So erwarb der arme Bauernsohn aus Bitonto ein beträchtliches Vermögen mit seiner Stimme und lebte nach seinem Abschied von der Bühne bis ins hohe Alter in Neapel, wo er 1783 starb.

Nun erfreut sich die Oper heutzutage nicht mehr der Beliebtheit wie im 18. Jahrhundert, als deren Sänger umworben, begehrt und verehrt wurden, aber wer einen kleinen Eindruck vom Können und stimmlichen Umfang Caffarellis gewinnen will, sollte mal hier (Cecilia Bartoli singt “Se mai senti sperarti sul volto” von Gluck) oder hier (Simone Kermes singt “Per trionfar pugnando” von di Majo) hereinhören.

IMG_6999Wer nach Apulien kommt, sollte sich ruhig etwas Zeit nehmen, um den Ort Bitonto zu besuchen. In der Altstadt befinden sich in architektonischen Kleinoden wie dem Palazzo Sylos-Calò aus der Spätrenaissance Gemäldegalerien oder kleine Museen. Die nette Frau in der Touristeninfo hilft da gern weiter und hat darüber hinaus sicherlich noch ein paar Karten und Infomaterial zu vergeben. Wer keine Gelegenheit zu einer Reise hat, aber sich für die oppulente und sexuell offenherzige Zeit der Kastratensänger interessiert, kann sich mit Tanja Kinkels “Verführung” ein wenig Italien aufs heimische Sofa holen und lesen, wie Casanova, der wohl bekannteste Verführer der Weltgeschichte, fast an seinem Verstand zweifelt, als ihm der vermeintliche Kastrat Bellino den Kopf verdreht.