Archiv für den Monat Oktober 2016

Wildromantisches Mittelaltergefühl – Torre di Castiglione

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Zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert blühte die kleine Siedlung „Castiglione“ auf dem Hügel nahe Conversano und eine Stadtmauer sowie ein Verteidigungsturm wurden angelegt.

Ekkehart Rotter beschreibt die Geschichte Apuliens treffend als „eine einzige Abfolge von Okkupationen, ein verwirrendes Zusammenspiel von Völkern und Kulturen, ein chaotisches Knäuel politischer Machtfelder und sich ständig verschiebender Beziehungsgeflechte.“ Daher mangelte es Apulien weder an wehrhaften Kastellen noch an Verteidigungs- und Überwachungstürmen. Die Kastelle sind ob ihrer großen Bedeutung und zentralen Lage Touristenmagneten und daher gut restauriert. Die Verteidigungstürme werden jedoch eher stiefmütterlich behandelt, so dass auch schon viele verschwunden sind, bzw. ihr Dasein als Ruinen fristen. Scheinbar gibt es einfach zu viel Geschichte in Apulien.

torre-di-castiglione-3torre-di-castiglione-2Im Frühjahr entdeckten wir durch Zufall den Turm von Gavetino bei Bisceglie, als wir eigentlich den Dolmen della Chianca suchten, und wurden auf die mittelalterlichen Konstrukte, die nicht nur die Küstenzone abdeckten, wovon z.B. ein gut erhaltener Turm in San Vito zeugt, im Hinterland aufmerksam. Während man den „Torre di Gavetino“ eher im Verborgenen hält, gibt es für den „Torre di Castiglione“ zwischen Conversano und Putignano sogar einen Wegweiser. Dieser fiel uns bei unseren täglichen Fahrten nach Castellana Grotte auf, wo Pasquale zwei Wochen an seinen Gallensteinen laborierte. Wenn man Touristen also auf diesen Turm aufmerksam machte, müsse er eine gewisse Bedeutung haben, dachten wir und machten uns gestern auf, um uns das gute Stück anzusehen.

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Wildromantischer Überwuchs

Wir verfuhren uns auch nur einmal, weil an einer Gabelung ein Folgewegweiser fehlte, und erreichten relativ unkompliziert die Spitze eines kleinen Hügels und einen Parkplatz an deren Ende sich der besagte Turm nebst einer imposanten Mauer gen Himmel reckten. Außerdem machten zwei Schilder darauf aufmerksam, dass es sich bei den zahlreichen Eichen, Olivenbäumen und dem strauchigen Unterwuchs, welche den Turm und die von uns noch zu entdeckenden Grundmauernreste umgaben, um ein vom WWF geschütztes Stück Natur handelte, das tatsächlich als „Wald von Castiglione“ bezeichnet wird.

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Pfui!

Leider erhielt unser Enthusiasmus für mittelalterliche Gemäuer schnell einen Dämpfer, als wir auf die zeitgenössische Müllansammlung vor dem Turmeingang stießen. Es entzieht sich völlig meinem Verständnis, wie man sein historisches Erbe, mit dem man in Deutschland wuchern würde, in Apulien so misshandeln kann, zumal sogar ein ausgeschilderter Radwanderweg an dem Turm vorbeiführt und uns auf der Hauptstraße am Wochenende wahre Heerscharen von Radfahrern das schnelle Durchkommen nach Castellana Grotte erschwert hatten. Wir überlegten daher kurz, ob wir, wie auf einem der Schilder vorgeschlagen, die örtliche WWF-Niederlassung anrufen sollten. Doch da wir unseren Ausflug nach dem Mittagessen angetreten hatten, wollten wir niemanden beim wohlverdienten Mittagsschlaf stören und beschlossen, sie heute schriftlich zu informieren.

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Reste eines Hauses oder eines Lagergebäudes

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Die Grundmauern einer kleinen Kirche

Den Müllberg hinter uns lassend, folgten wir einem Trampelpfad, und stießen schnell auf die Grundmauern eines Hauses. Hinter einem Hohlweg erkannten wir am halbrunden Schiff die Umrisse einer Kirche und uns wurde klar, dass es sich beim Turm von Castiglione um deutlich mehr als nur einen Aussichts- oder Verteidigungsturm handeln musste. So führte denn besagter Trampelpfad als Rundweg durch diese Siedlungsanlage, an der eindeutig vor nicht allzulanger Zeit Grabungen durchgeführt worden sein mussten, denn überall türmten sich Steinhaufen, die noch nicht wieder vom üppig grünen Gras und Strauchwerk überwuchert waren.

siedlungsreste-2Eine anschließende Recherche im Internet und bei Rotter (S. 270) ergab, dass man hier tatsächlich in den 1980er Jahren eine ganze mittelalterliche Stadt samt Stadtmauer ausgegraben hatte, die vom 10. bis 15. Jahrhundert existiert, aber ihren Anfang bereits in der Bronzezeit genommen hatte, als die Peuketier in Apulien siedelten. Wow! Und hier konnte man so einfach auf mittelalterlichen Steinen herumklettern, durch Grundmauern stiefeln und Müll vor dem Aussichtsturm ablagern. Ein umfassendes historisches Erbe ist offensichtlich schwer zu bewältigen, wenn es nicht nur an Geld sondern auch an Bewusstsein für den Wert von Frühgeschichte fehlt.

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Praktisch für die frühen Siedler – von hier aus geht der Blick weit ins Umland

mauertorre-di-castiglione-4Mein brandenburgisches Herz schlägt jedenfalls für alles Grüne und Kaputte. Ich nenne es „wildromantisch“ und „frei“. Von daher werden wir ganz sicher zum Wald und Turm von Castiglione zurückkehren. Wahrscheinlich im nächsten Frühling und dann mit einer Decke und einem Picknickkorb bewaffnet. Vorher werden wir, wie auf dem Schild vorgeschlagen, das WWF-Büro anrufen, damit uns jemand den Turm aufschließt.

Macchia mediterranea e casale medioevale di Castiglione, sezione WWF di Conversano, Via San Benedetto 16, Tel: 3282915721, E-mail: conversano@wwf.it